Annemarie und Alfred Brassel gründeten 1973 die St. Galler Singschule und leiteten sie bis ins Jahr 2001. Sie arbeiteten von Beginn weg mit der Latonisation. Das nachfolgende Interview mit ihnen führte ihr Sohn und aktueller Präsident von la.to.ni Christian Brassel im Januar 2018.

 

Weshalb habt Ihr Euch entschieden die Latonisation anzuwenden, die für Euch damals ja auch neu war?

 

Alfred: Ich habe während meiner Zweitausbildung zum Schulmusiker am Konservatorium ein Referat vom damaligen Leiter der Singschule Chur, Lucius Juon über die Latonisation gehört und war sofort fasziniert. Am Kindergärtnerinnenseminar in Ebnat-Kappel hat mein Vorgänger Heinrich Seiler bereits mit der Latonisation gearbeitet. Diese Arbeit setzte ich fort. Endgültig überzeugt von den Vorzügen der Latonisation war ich, nachdem ich 1967 die Möglichkeit hatte, bei der Singschule Chur in die tägliche Arbeit hineinzuschauen. Lucius Juon hat mich ermutigt, es doch damit zu versuchen.

 

Was war Euch sonst noch wichtig, dass Ihr die grosse Arbeit eine Singschule aufzubauen angegangen seid?

 

Annemarie und Alfred: Wir waren beide schon früh musikbegeistert. Wir lernten uns im Bachchor St. Gallen kennen unter der Leitung des Gründers, Andreas Juon. Er förderte uns auf verschiedensten Gebieten. Wir sangen auch bei ihm in der Grossacker Kantorei, hatten beide Einzelstimmbildung, Annemarie auch Klavier- und Orgelstunden. Diese Kirchenmusik verhalf uns zu tiefgehender religiöser Verwurzelung. Auch in ganz schwierigen Situationen fanden wir dadurch die nötige Geborgenheit und Kraft.

 

Durch den Kontakt mit der Singschule Chur wuchs in uns der Wunsch auch den St. Galler Kindern eine Singschulausbildung anzubieten - unserer Jugend das Geschenk Musik weiterzuschenken. Auch unsere drei Kinder profitierten davon.

 

War die Latonisation für die Schüler schwierig zu erlernen?

 

Annemarie und Alfred: Wir denken das nicht, nein. Wichtig ist natürlich vor allem die Motivation der Lehrperson. Wenn man überzeugt und überzeugend ist, dann findet man Wege, wenn das fehlt ist es überall und mit allem schwierig. Die Latonisation ist eigentlich recht einfach und logisch, aber natürlich braucht es viel Wiederholung, um Routine zu bekommen und alles zu verinnerlichen und anzuwenden. Aber das ist wohl bei allen Sachen so, die man gut beherrschen möchte.

 

Die Singschule verwendet eine wirklich geniale Methodik zur kindes- respektive altersgemässen Erlernung der Theorie. Wir durften diese in Chur lernen und übernehmen. Die Kinder lernen dabei die Theorie in Form von Geschichten, spielerischen Uebungsformen und altersgerechter Anwendung an Liedern ganz von alleine. Bei diesen Kindern stellte sich die Frage nicht, ob es schwierig zu erlernen war, sie konnten es dann einfach circa in der 5./6. Klasse. Wenn man mit Erwachsenen neu anfangen möchte, sieht es natürlich anders aus. Aber auch da denken wir, dass wenn der Wille vorhanden ist sich darauf einzulassen, sich die Schwierigkeiten in Grenzen halten und in keinem Verhältnis stehen zum Nutzen, den man daraus ziehen kann.

 

Was sind aus Eurer Sicht die wesentlichen Vorteile der Latonisation?

 

Annemarie und Alfred: Die Latonisation vereint die Vorteile des absoluten Systems (wie das C-D-E) und ist trotzdem sangbar (wie die Solmisation).

 

Es gelingt sehr schnell, eine Verbindung zwischen den Silben und wie sie tönen sollten herzustellen, das hat viele Vorteile. Wer mit der Latonisation arbeitet und z.B. To-Ni liest oder hört, bei dem klingt es auch schon so innerlich. Das hilft sehr beim Blattsingen und Musikverständnis. Aber auch der ganz eigene Charakter, die Farbe jeder Tonart kann durch die Latonisation viel besser wahrgenommen werden.

 

Die Latonisation beeinhaltet ausserdem viele eingebaute Hilfen. Carl Eitz hat es perfekt geschafft, die musikalischen Realitäten in Silben zu fassen, es ist nicht einfach irgendeine Bezeichnung. Details dazu finden Interessierte unter der Rubrik "detaillierte Informationen" in einem eigenen Artikel.

 

Die Latonisation erhöht die Bereitschaft, Musik zu hören, zu verstehen und zu erleben. Versuchen wir das näher zu erklären: Beim Instrument kann man mechanisch Tasten drücken oder greifen, auch ohne genau zu wissen wie die Noten tönen sollten. Oder man singt oder spielt etwas einfach nach bis man es kann. Aber wenn man die Noten sieht und schon innerlich hört wie das tönen sollte und wie der Zusammenhang der Musik ist, dann gibt einem das natürlich ganz andere Möglichkeiten der Gestaltung. Genau das fördert die Latonisation. Zusammengefasst: die Lationisation führt zu Selbständigkeit im Blattsingen und im schöpferischen Gestalten als ChorsängerIn, SolosängerIn, InstrumentalistIn oder DirigentIn.

 

Gab es Momente oder Erkenntnisse wo Ihr dachtet, das wäre ohne Latonisation nicht möglich gewesen? Könnt Ihr ein konkretes Beispiel nennen?

 

Annemarie und Alfred: Es gab sicher viele Sachen, wo wir durch die Hilfe der Latonisation besser arbeiten und vor allem Werke schneller verstehen und erarbeiten konnten. Es ist ja nicht nur das leichtere Blattsingen, sondern die vielen Hilfen, welche die Latonisation eben bietet um die Musikzusammenhänge eines Stückes zu erfassen und begreifen.

 

Etwas das wir ohne Latonisation gar nicht geschafft hätten, das gab es tatsächlich: Im Jahr 1984 hat der damals junge Dirigent Oliver Cuendet unser 10 jähriges Jubliäums Jahressingen gehört und uns anschliessend gefragt, ob wir für ein Sommersinfoniekonzert in St. Gallen Werke von Bela Bartok mit ihm und dem Städtischen Orchester aufführen möchten, drei Dorfszenen und fünf ungarische Volkslieder. Diese Musik war so schwierig, das hätten wir ohne die Latonisation nie geschafft, so aber konnten wir ein eindrückliches Konzert mitgestalten nach erst 10-jährigem Bestehen der Singschule.

 

Dank der Latonisation und pädagogischem Können war es uns und unseren MitarbeiterInnen möglich, sogenannten Brummern zum Glückserlebnis Singen zu verhelfen. Entgegen der landläufigen Meinung: "Musikalität ist nicht lernbar, die hat man oder nicht!" So brauchten wir nie ein Kind vom Singschulunterricht auszuschliessen.

 

Habt Ihr eine Erklärung, warum Anerkennung und Verbreitung der Latonisation so schwierig sind?

 

Annemarie und Alfred: Das ist eine schwierige Fragen, auf die wir keine abschliessenden Antworten haben. Versuchen wir trotzdem den einen oder anderen möglichen Grund zu erwähnen:

 

Während dem 2. Weltkrieg wurde die Lationisation in Deutschland vom Hitlerregime unterbunden. Vor allem wurde das Singen wie anderes auch vom Naziregime für Propaganda missbraucht. Das hatte grossen Einfluss auf die Zeit nach dem Krieg, in Deutschland selber, aber auch in allen umliegenden Ländern, wo vieles was aus Deutschland kam einen negativen Beigeschmack hatte.

 

Ein weiterer Punkt könnte sein, dass Carl Eitz ein Genie war. Er hat sich alles selber beigebracht, für Ausbildung und Studium war kein Geld vorhanden. Man sieht halt vielleicht nicht gerne, wenn ein autodidaktisch ausgebildeter Lehrer etwas entscheidend Besseres gefunden hat, als alle Studierten ihrer Zeit.

 

Beim weitverbreiteten Instrumentalunterricht ist es dann halt auch so, dass man mit dem bestehenden C-D-E ganz gut durchkommt, da spielt es ja keine Rolle dass es nicht sangbar ist. Allerdings hätten wie bereits andernorts erwähnt auch die Instrumentalisten ganz viele entscheidende Vorteile durch die Nutzung der Latonisation.

 

Leider stellten wir eine starke Frontenverhärtung zwischen Latonisations- und Solmisationsverfechtern fest, was eigentlich schade ist, denn letztendlich könnten doch alle gegenseitig voneinander profitieren. Woher diese Frontenverhärtung kommt ist uns nicht wirklich bekannt. Unser Sohn ist im Internet auf Informationen gestossen, dass Anfang des 20. Jahrhundert durch Herausgeben von Musikschulbücher viel Geld verdient wurde und es einen harten Kampf zwischen Latonisation und Solmisation gegeben habe. Das wäre durchaus eine mögliche Erklärung, wir können es jedoch nicht mir Sicherheit bestätigen.

 

Wenn Ihr zurückschaut, was sind die Hauptpunkte, mit denen Ihr heute zufrieden seid?

 

Annemarie und Alfred: Es gab so viele schöne Sachen, dass wir hier nichts mehr besonders herausheben möchten. Wir sind einfach dankbar für die vielen Hilfen und die grosse Unterstützung von ganz vielen Menschen.

 

Es freut uns natürlich auch, dass in St. Gallen seit Jahren mit Bernhard Bichler und neu in Chur mit Lilian Köhli Ehemalige unserer Schule die Leitung St. Galler Singschule und der Singschule Chur übernommen haben. Wir wünschen beiden viel Erfolg, viel Befriedigung und den notwendigen Durchhaltewillen. Bernhard macht das ja nun schon seit Jahren sehr gut. Dass unsere ehemalige Schülerin Lilian Köhli seit Sommer 2017 die Singschule Chur als musikalische Leiterin in die Zukunft führt, freut uns sehr. Damit schliesst sich für uns so ein bisschen der Kreis, denn ohne Chur wäre unsere Arbeit nicht möglich gewesen.

 

Was die Latonisation betrifft hoffen wir, dass zumindest in diesen beiden Schulen auch in Zukunft deren Vorzüge erkannt und genutzt werden. Wir sind uns bewusst, dass sich die Zeiten ändern, aber für uns war die Latonisation im Nachhinein gesehen der wohl wichtigste Grundpfeiler der gesamten Singschularbeit.