Lebenserinnerungen von Carl Eitz

Wie sich die Forschung ihre Werkzeuge

zur Lösung bestimmter Aufgaben auswählt und vorbereitet.

Von Professor Dr. Carl Eitz (1848 — 1924)

 

 

Immer wieder drangen mich meine Freunde, etwas aus meinem Leben der Öffentlichkeit kundzugeben, Das wird mir schwer. Meine grösste Freude ist es immer gewesen, mich in die Sachverhalte der mich umgebenden Welt zu vertiefen und zu verlieren. Dabei gerät man leicht in einen Zustand, dass man sich ganz vergisst und in den Sachen aufgeht. In solchem Sich-selbst-vergessen habe ich die glücklichsten Stunden meines Lebens gehabt und dabei Neigung und Anlage fast ganz verloren, mich einmal auch mit meiner Person zu befassen. Nun hat man mir aber eingeredet, es wäre für strebsame Menschen sehr nützlich, wenn sie etwas aus meinem Leben erführen. Damit hat man mich bei meiner schwächsten Seite gepackt, denn wenn ich mich auch in den Sachen verlor, so steckte dahinter doch immer der Antrieb, mich als ein nützliches Mitglied der Menschheit nach dem Masse meiner Kräfte zu bewähren. Hiermit erliege ich nun den lieben Freunden, die mich in die gefährliche Versuchung gebracht haben, zum Nutzen meiner Mitmenschen etwas aus meinem Leben mitzuteilen. Wenn mir diese Aufgabe misslingt, so wasche ich meine Hände in Unschuld,

Mein Leben ist ja so harmlos verlaufen, ohne aufregende Ereignisse, dass dem Leser hie und da die Langeweile aufkommen muss, zumal mir die Fähigkeit der Dichter abgeht, mit kleinen Ursachen grosse Wirkungen zu erzielen. Dem lieben Leser mit dichterischen Anlagen sei es deshalb gern erlaubt, in meine schlichten Mitteilungen hinein zu dichten, was ihm beliebt. Dann kommt er vielleicht einigermassen bei der Lektüre auf seine Rechnung.

Am 25. Juni 1848, um die Sommersonnenwende bin ich in Wehrstedt bei Halberstedt geboren. Das Geburtshaus, ein kleines, einstöckiges Gebäude, Haustür, rechts und links zwei Fensterlein, gehörte der Gemeinde und diente meinem Grossvater, dem letzten Kuhhirten des Dorfes, zur Wohnung, Nach der Separation wurde die Gemeindewiese unter die Besitzer des Dorfes aufgeteilt, und damit erübrigte sich der Kuhhirt. Mein Grossvater war meilenweit im Umkreise als Arzt für Vieh und Menschen bekannt und gesucht. Mein Vater hat mir oft von zwei dicken Büchern gesprochen, die im Besitz des Grossvaters waren, einem Kräuterbuch und einem Doktorbuch. Diese Bücher habe ich nie gesehen und über ihren Verbleib nichts erfahren können. Auch der Grossvater ist vor meiner Geburt gestorben. Das Hirtenhäuslein stand im Schatten einer. gewaltigen Esche. Vor der Esche waren drei tafelförmige Steine tischartig zusammengebaut, dort ruhten die Einwohner des, Dorfes aus, fast lauter Gemüsegärtner, wenn sie mit ihren schweren Traglasten vom Felde über die dem Hirtenhäuslein naheliegende Kuhbrücke zum Darf heimkehrten. Unser Häuslein lag an der auf dem Brocken entspringenden Holtemme, die in die Bode fliesst, Der steinerne Ruhetisch vor der Esche hatte für meine Mutter und mich einige Bedeutung, denn dort wurden wir mit den Dorfbewohnern bekannt und über die Ereignisse im Dorf auf dem Laufenden gehalten. Hirtenhäuslein, Esche und Steintisch sind verschwunden. Ein Verwandter von mir hat das Häuslein gekauft und an dessen Stelle ein dreistöckiges Mietshaus errichtet.

Als ich zwei bis drei Jahre alt war, zogen meine Eltern nach dem ein knappes halbes Stündchen entfernten Halberstadt zu einem Glaser, der gleichzeitig Thermometer- und Barometerfabrikant war. Aus dieser Zeit erinnere ich mich eines heftigen Regenwetters. Dass der Regen aus den Wolken auf die Strasse fiel, war mir verständlich, dass er aber im Übermass von den Dächern floss, fiel mir auf. Vor dem nahen Stadttor, das Wassertor hiess, erweiterte sieh die Holtemme teichartig. Auf meine Frage wegen der von den Dächern strömenden Wassermassen berichtete mir unser Dienstmädchen; „Vor dem Wassertor stehen riesengrosse Männer mit Wasserstiefeln in der Holtemme und schütten mit grossen Eimern Wasser über die Dächer, damit sie gewaschen werden." Das habe ich ihr als kaum dreijähriger Knirps nicht geglaubt. Offenbar war ich also schon damals kritisch veranlagt. — Um die gleiche Zeit beobachtete ich, wie zwei Kinder des Hauswirts sich um ein Spielzeug zankten. Jeder behauptete, es gehöre ihm. Das war mir unverständlich, denn es konnte doch nur einem gehören, und ich war überzeugt, dass einer der Streiter wider besseres Wissens handelte. Da habe ich im Bewusstsein der Überlegenheit geurteilt: Kleine Kinder sind doch manchmal recht dumm und unartig. — Nach einem Besuche in Wehrstedt bei der alten Grossmutter, erlebe ich auf dem Heimwege zum ersten Male den Anblick des gestirnten Himmels. Der Anblick war für mich so überwältigend, dass ich mich fürchtete, Meine Tante Katharine, die mich führte, musste ihren Mantel um mich schlagen, damit mich die Sterne nicht mehr ängstigten. — Trotz meiner kritischen Veranlagung habe ich als Kind vor dem überlegenen Sachverständnis meiner Eltern und anderer Erwachsener immer eine hohe Achtung gehabt. Auch Kinder habe ich angestaunt, wenn sie mir in irgendeiner Weise überlegen waren. Dass mein 18 Monate jüngerer Bruder Feuer anmachen, Suppe und Kaffee kochen, sicherer als ich mit Steinen werfen, Kühe und Pferde anschirren, fahren und die Zügel regieren, kunstgerecht mit der Peitsche knallen und wer weiss was konnte, wovon ich keine Ahnung hatte, erzeugte in mir das unbequeme Gefühl einer gewissen Rückständigkeit. Wenn dann mein Vater, er hatte mich sehr lieb, sich nicht verkneifen konnte, mir ab und zu zu versichern, ich würde alle Tage dümmer, so habe ich , wenn auch mit einigen bescheidenen Vorbehalten, gern geglaubt, Die Achtung vor den Leistungen anderer hat mich bis heute nicht verlassen. Gegenüber den Lehrern, die ihre Ausbildung auf den Lehrerbildungsanstalten erhalten haben oder gar akademisch für ihren Beruf vorbereitet sind, habe ich als Autodidakt mich immer und zwar bis heute rückständig gefühlt. Ich bereue das nicht, obwohl die Erfahrung oft versucht hat, meinen Standpunkt zu korrigieren, und obwohl ich bei mehr gesteigertem Selbstbewusstsein mit meinen Bestrebungen vielleicht bessere Erfolge erzielt hätte. aber wer kann aus seiner Haut heraus? Ausserdem weiss ich, dass man auf dem Gebiete der Wissenschaft nur etwas erreicht, warm man sieh gegenüber den Sachverhalten der äussersten Bescheidenheit befleissigt. Man soll es nie verlernen, gegenüber seinen eigenen Ansichten und Meinungen misstrauisch zu sein. Wer voreilig Lehrmeinungen aufstellt, ihnen vertraut oder gar sich darin verliebt, haut meist daneben. Ich kenne Gelehrte von Ruf, die an dieser Klippe gescheitert sind. Wenn man sie heute auch noch nennt und sich auf sie beruft, in wenigen Jahrzehnten nach Beendigung ihrer Tätigkeit werden sie vergessen sein, In der Zeit zwischen meinem dritten und vierten Lebensjahre bin ich schwer erkrankt. Über die Ursachen der Erkrankung sind sich weder der Arzt noch meine Eltern seinerzeit klar geworden. Aber ich weiss, dass in der Wohnung und Werkstätte des Glasers, bei dem wir wohnten und mit dessen Familie wir freundschaftlich verkehrten, überall Quecksilbertröpfchen auf Tischen, Bänken und Fensterbrettern herumlagen, mit denen wir Kinder gern spielten und wobei wir wohl unser Butterbrot assen. Um diese Zeit bekam ich ein bösartiges Geschwür auf der linken Stirnseite, wovon die Narbe noch heute sichtbar ist. Der Arzt behandelte den Schaden mit Erfolg nur mit einem grünen Pflaster; er war gegen das Schneiden. Nach Abheilung des Geschwürs entwickelten sieh nacheinander neue Geschwüre an der linken Halsseite. Bis über mein sechstes Lebensjahr hinaus bin ich mit Verband herumgelaufen. Schmerzhaft war das Leiden nicht, ich war dabei ein ganz vergnügter Junge. Als diese Periode schliesslich. mit Abheilung ihr Ende erreichte, stellten sich Augenentzündung und Geschwüre auf der Hornhaut des Auges ein, von denen jetzt noch die Narben zu sehen sind. Bis gegen mein 20. Lebensjahr bat mich dies Augenleiden geplagt, das ab und zu mit rosenartiger Gesichtsschwulst abwechselte. Während dieser Erkrankung bin ich vom sechsten Jahre ab mit vielen monatelangen Unterbrechungen zur Schule gegangen. Zuweilen war die Augenentzündung so stark, dass ich entweder mit verbundenen Augen zu Hause sass oder ab und zu wie ein Blinder, von meinem jüngeren Bruder geleitet zur Schule ging. In Halberstadt war eine dreiklassige Volksschule der reformierten Kirchengemeinde.

Trotz meiner häufigen Erkrankungen hatte ich mit dem 9. Lebensjahre doch die Versetzung bis in die erste Schulklasse erreicht. Den Ausschlag dabei gaben wohl meine Leistungen in der Rechenkunst. In der zweiten Klasse war Heinrich Germer mein Lehrer, der als berühmter Klavierpädagoge später in Dresden gestorben ist, In der ersten Klasse war der Oberküster Schönau mein Lehrer. Er war wohl ein tüchtiger Mann. Unvergesslich ist mir, wie er uns die Umdrehung der Erde an seiner grossen, runden Schnupftabakdose klarmachte. Mein liebstes Schulbuch war eine Formenlehre von Dr. August Wiegandt, der als Lehrer in Halberstadt dieses Büchlein bei Dölle hatte drucken lassen, später als Lehrer nach Halle-Saale ging und dort die Lebensversicherungsgesellschaft „Janus" gründete. Seine Formenlehre hatte zwei Abteilungen planimetrischer Konstruktionsaufgaben, eine mit, die andere ohne Auflösungen. Die erste Abteilung habe ich mit Inbrunst durchgearbeitet und in der zweiten mich mit wechselndem Erfolg versucht. Bald nach Vollendung meines zehnten Lebensjahres verzogen meine Eltern wieder nach Wehrstedt. Dort wirkte Willhelm Feuerstake als einziger Lehrer an der zweiklassigen Schule. im Winter hatte die Oberklasse vormittags von 8 bis 11, die Unterklasse nachmittags von 1 bis 3 Uhr Unterricht. Am Mittwoch und Sonnabend aber kam die Oberklasse vormittags von 8 bis 10, die Unterklasse von 10 bis 12 Uhr. Am schönsten war es im Sommer, da kam jeden Tag die Oberklasse von 6 bis 8, die Unterklasse von 8 bis 10 Uhr vormittags. Feuerstake war der Nachfolger seines Vaters im Amt. Er wollte Pastor werden. Um die Zeit, als er am Gymnasium in Halberstadt sein Abiturium bestanden hatte, starb sein Vater. Die Mutter bewog ihn, des Vaters Amt zu übernehmen. Die Lehrerstelle war eine der bestdotierten in der Umgegend. Aus Anlass der Mutter wurde Feuerstake zur Ablegung einer kommissarischen Lehrerprüfung bei der Regierung in Magdeburg vorgeladen, die er bestand und die ihm die Lehrerstelle in Wehrstedt eintrug.

Die Schulverhältnisse in Wehrstedt, sowie der dortige Lehrer sind für meine Ausbildung von einschneidender Bedeutung geworden. Wegen meiner geschwächten und immer wieder einmal heftig erkrankten Augen zog ich den Aufenthalt im Zimmer vor. Sehr gern gestattete mir der freundliche Feuerstake auch während des Unterrichts der Unterklasse mich im Schulzimmer aufzuhalten. Dort durfte ich dann, ohne den Unterricht zu stören, treiben, was ich wollte. Zuweilen durfte ich sogar, wenn der Lehrer durch andere Amtsgeschäfte oder sonstwie verhindert war, an seiner Stelle den Unterricht der Unterklasse übernehmen. Als ich etwas über 11 Jahre alt war, bildete ich im Rechnen ganz allein die erste Abteilung. Der Lehrer hatte gedruckte Täfelchen mit Rechenaufgaben in seinem Schrank. Die übergab er mir Stück für Stück. Dazu gehörte ein Fazitbuch. Wenn ich mit einem Täfelchen fertig war, so erschien er mit seinem Fazitbuch. Sehr oft hatte ich nicht falsch gerechnet, wenn sein Fazitbuch eine andere Auflösung brachte, sondern die Ausrechnung im Fazitbuch war falsch. Brachte das Täfelchen neue Rechnungsarten, so fragte der Lehrer: „Wenn du etwas nicht weisst, so frage mich!" Selten oder nie habe ich gefragt, sondern solange an dem Neuen mich versucht, bis ich es löste. Von da ab hatte ich immer Probleme, an denen sich meine Denkkraft erproben durfte. Bei einem Problem musste ich doch den Lehrer zu rate ziehen. Als ich mit dem bürgerlichen Rechnen fertig war, es war vor Vollendung meines 12. Lebensjahres, sagte mein Lehrer (1860): „für die Zukunft wird die Dezimalbruchrechnung eine grosse Rolle spielen, damit musst du dich jetzt bekannt machen." Er gab mir ein Büchlein in der Stärke eines Schullehrbuches, das die ganze Dezimalbruchrechnung und noch 100 mathematische Schnurrpfeifereien enthielt. In vielleicht einem halben Jahre hatte ich das Buch durchgearbeitet. Während dieser Zeit war ich darauf verfallen, die Grösse der Diagonale eines Quadrats über der Seite 1 zu berechnen. Bald hatte ich heraus, dass die Grösse der Diagonale eine Zahl sei, die mit sich selbst multipliziert 2 ergibt. Durch Versuche mit Dezimalbrüchen hatte ich die Zahl auf 5 oder 7 Stellen ermittelt und war erstaunt, dass keine endliche Zahl auffindbar war. Da musste ich doch den Lehrer fragen. „Ja", sagte er, „da gibt es keine endliche Zahl, das ist eine sogenannte irrationale Zahl. Da musst du lernen, die Quadratwurzel auszuziehen. Komm einmal her." Nach der Formel (a+b)2=a2+2ab+b2 führte er mich in 10 bis 15 Minuten in die Geheimnisse des Quadratwurzelziehens ein. War das ein Erlebnis! Ich konnte mir von da ab im Wurzelziehen nicht genug tun.

Sehr gerne wäre ich hinter die Geheimnisse der Lokomotive gekommen. Da wir in den wenigen Schulstunden selbstverständlich keine Naturlehre haben konnten, so bat ich meinen Lehrer um ein Physikbuch. Mit Begier habe ich mich während dieser Zeit des Unterrichts in der Unterklasse in die Lektüre des Buches vertieft. Alles war darin, bis zum Zeigertelegrafen. Wie eine Erlösung war es aber, als ich über die Schiebersteuerung der Lokomotive ins Klare kam. So einfach war das! Da stand es bei mir fest: Du musst Maschinenbauer werden. — Des Lehrers Neffe, ein Waisenkind, war bei ihm in Pension und besuchte das Gymnasium im nahen Halberstadt. Er war mein Spielgenosse und fiel mir öfter mit seinen lateinischen Brocken auf die Nerven. Da bat ich meinen Lehrer um lateinische Bücher. Gern gab er mir Übungsbücher für Sexta und Quinta und eine bibeldicke Grammatik von Zumpt. Er sagte: „Im Übungsbuche stehen bei jedem Abschnitte die Kapitel, die du im Zumpt nachzuschlagen hast." Als ich nach einem halben Jahre schon im Übungsstoff der Quinta angelangt war, sagte er nach Durchsicht meiner Arbeit: „Du lernst nun schon ein halbes Jahr und hast wieder einmal drei Fehler." Da hatte ich doch allen Anlass, die Sache ernster zu nehmen. Wie ich bald 14 Jahre alt war, sagte der Lehrer: „ Gute Freunde in Halberstadt haben mir versprochen, für Bücher und Freitische zu sorgen, wenn du das Gymnasium besuchen willst, aber dein Vater muss bis zum Abiturium für Kleidung sorgen. Mit dem Direktor des Gymnasiums habe ich auch gesprochen, er will dich in die Tertia aufnehmen." Mein Vater konnte auf den Pakt nicht eingehen, er verdiente als Arbeitsmann den Tag 1 Mark 20, und ich hätte doch auch noch zwei jüngere Geschwister. Dass aus dem Besuch des Gymnasiums nichts wurde, hat mir keinen Kummer gemacht. Ich sagte mir: Alles, was man weiss, steht ja in den Büchern. Wenn du irgendwie zu Gelde kommst, kaufst du die Bücher. Alles, was du daraus lernst, willst du einmal zum Nutzen deiner Mitmenschen anwenden. Wie schwer ist es, solche Gelübde zu halten. Aber das Schicksal hat ein Einsehen gehabt und mich auf Pfade geführt, die mir die Einlösung meiner Gelübde erleichterten. Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal für die Hebung der musikalischen Volksbildung etwas leisten könnte. Und doch ist es so gekommen. Da muss ich aus meinen ersten Schuljahren noch etwas nachholen. Meine Mutter war, was man so nennt, gar nicht musikalisch gebildet, aber sie war musikalisch gut veranlagt, sang sehr gern und sehr schön. Sie stammt aus Magdeburg aus einer sehr musikalischen Familie, in der der Vater Violine, der Sohn Bass spielte und ausserdem auch Waldhorn blies, aber beide waren fast ohne Notenverständnis. In der Unterklasse der reformierten Volksschule hatte ich das nette Liedchen gelernt: Als unser Mops ein Möpschen war. Ich konnte es eben so schön singen wie meine Mitschüler, ich konnte ebenso wie sie krähen und quäken. Noch heute lernen das recht viele Schüler in den Volks- und höheren Schulen. Ich sang meiner Mutter das Lied so schön vor, wie wir es in der Schule gelernt hatten. Da sagte sie: „Du bist ein Sausänger." Damals habe ich den Tadel nicht verstanden. Jetzt weiss ich, dass die Schulen einen übergrossen Prozentsatz von Sausängern erziehen. Da fügte es das gütige Geschick, dass ich von meinem musikalischen Grossvater die kostbare Geige ererbte, die aber heimlicher Weise ein habgieriger Verwandter vor der Ablieferung mit einem alten, kratzigen Ladenhüter vom Trödel vertauscht hatte. Ich war so gerade 11 Jahr alt, als der Wechselbalg in meine Hände kam. Das Ding hatte vier Saiten, ich stimmte sie in Sekunden, da konnte ich eine ganze Tonleiter spielen. Aber die Sache kam mir doch verdächtig vor. Als eines Tages ein Bettelmusikant in unserem Hausflur spielte, bat ich meine Mutter, den Mann in unsere Wohnung einzuladen, dass er meine Geige richtig stimme. „Ja", sagte er, „du hast falsch gestimmt, die Geige muss in Quinten gestimmt werden." Ja freilich, meine Lehrer hatten ja ihre Geigen immer in Quinten gestimmt, diese Intervalle sassen mir schon seit Jahren fest in den Ohren. Wie habe ich mich vor dem Bettelmann geschämt, dass ich das Geigen-stimmen nicht schon längst von meinen Lehrern gelernt hatte. Nun lernte ich es im Umsehen von diesem Bettler. Das ist die einzige Musikstunde, die ich in meinem Leben gehabt habe; meine Mutter hat sie mit einem Silbersechser (5 Pfennige) und einem Käsebrot honoriert. — Bald konnte ich auf meiner Geige die erste und zweite Stimme der Lieder, die wir in der Schule lernten, sowie die Sonntags in der Dorfschenke gespielten Tanzmelodien heruntertragen. Als ich mich einmal vor einem solchen Dorfmusiker produzierte, fragte er: „Du fasst ja den Bogen beinahe in der Mitte an, wenn du ihn an den Ellenbogen schnallst, wird es eben so schlecht." Damals besass ich schon die Liederbüchlein von Ernst Hentschel. Es verdross mich, dass mir die Noten völlig unverständlich waren. Da hatte mir irgend jemand gesagt: „Kauf dir doch 'eine Violinenschule, da steht vieles drin, was du brauchst." Ja, mein Vater konnte mir das Geld zum Kauf nicht geben. Am Lohntage reichten die wenigen Groschen nicht aus, die Wochenschulden zu decken. In der Not hatten meine Eltern sogar Geld von einem Schneider geliehen, zu dem. kamen alle armen Arbeiter, die Geld brauchten, Am Sonntag kam dann die Schneiderfrau und holte für jeden geliehenen Taler einen Groschen Abzahlung. Wie viel Wochen man an einem Taler abzahlen musste, weiss ich nicht mehr. Ganz redlich war die Sache nicht, sie lief auf Wucherzinsen hinaus. Mein Mütterlein hatte eines Sonntags im Stubenofen etwas überkochen lassen, so dass die Brühe in die Stube lief. Sie hatte den Schaden durch eine kräftige Aufschüttung von weissem Sand geheilt. Ich sass auf einer Fussbank am Ofen und formte aus dem feuchten Sand eine Taube im Relief. Da kam die Schneiderfrau zum Einkassieren. Mein Täubchen gefiel ihr: „Junge", sagte sie, „das ist ja grossartig, da muss ich dir etwas schenken", und sie händigte mir acht gute Groschen (1 Mark) ein. Wie ein Blitz durchfuhr es mich: Dafür kaufst du dir eine Violinschule. Bei meiner nächsten Anwesenheit in Halberstadt ging ich in die Hehnsche Buchhandlung, deren Inhaber Held hiess. Der legte mir Violinschulen für einen, zwei, drei Taler und so weiter vor. Als ich ihm sagte, dass ich soviel Geld nicht aufwänden könne, holte er einen Pack Ladenhüter aus den oberen Regalen herunter: „Hier ist eine Schule für einen halben Taler (1 Mark 50)." „Ja, ich habe aber nur acht gute Groschen." „Na, gib einmal her." Dann versenkte er das Geldstück in den Spalt der Ladenkasse, wickelte das Heft schön ein und überreichte es mir. Gewiss strahlte mir die Glückseligkeit aus den Augen. Als ich an der Ladentür war, rief er: "Warte, du kriegst ja Geld wieder!" Damit zog er den Geldkasten auf und gab mir mein Achtgroschenstück wieder. Das war mein erster Notenkauf. Die Noten waren bald erlernt. Mit den Übungen der Violinschule ging es langsam vorwärts. Bis zum Lagenspiel bin ich nicht gediehen. Aber zur Verwunderung meiner lieben Mutter konnte ich alle Liedlein aus dem Hentschelschen Liederheft abgeigen. Es ist sonderbar; das Deutsche musikliebende Volk, das kein Instrument spielt, hat keine Beziehung zur Notenschrift und steht ratlos und verzweifelt vor der Aufgabe, sie zu erlernen. Bei mi• spielte hinderlich die Tatsache hinein, dass mein Latein und die Mathematik, mit der ich mich nach Erlernung der Dezimalbruchrechnung ernstlich und liebevoll beschäftigte, mein Interesse fast ganz ausfüllte. Die Musikalische Betätigung glitt dabei herab zum Range einer nebensächlichen gelegentlichen Spielerei. Besonders bot die Notenschrift mir gar keine aussichtsreichen Punkte zur Anknüpfung meines spekulativen Interesses. Ausserdem verdross es mich, dass es mir nicht gelang, die Notenschrift mit Verständnis zu lesen, nämlich so, dass ich mir den Tonklang der Noten vorstellen konnte. Da musste ich immer wieder die Geige zu Rate ziehen, dass sie mir die Notenschrift in Tonklänge verdolmetschte. Aber ich hatte doch das Vertrauen, dass mir allmählich das Notenverständnis erblühen werde, war ich doch musikalisch normal veranlagt. In unserer Dorfschule war ich fast der einzige, der zur Zufriedenheit des Lehrers eine Choralmelodie zu Ende sang, ohne herunterzuziehen. Es ist mein Verhängnis geworden, dass sich aber trotzdem kein deutliches Notenverständnis in mir entwickeln wollte. Meine instinktive Neigung, Problemen nachzuspüren, wurde durch diese Tatsache immer wieder angeregt. Die Frage: Was wird musikalisch gedacht? trieb mich später zu musikalisch-akustischen Untersuchungen. Die Frage: Wie wird musikalisch gedacht? zwang mich, die Begriffsmittel, Noten und Notennamen auf ihren Wert zu prüfen. Die Untersuchung ist negativ ausgefallen. Beide Mittel sind für alle, die kein Instrument spielen, kraftlos. Die Frage: Wie erzieht man alle, auch die, die kein Instrument spielen, zum musikalischen Denken? wurde mir zum Antrieb, die musikalischen Begriffsmittel zu verbessern. Das Tonwortsystem, welches sich heute schon vielfach im lieben deutschen Vaterlande und darüber hinaus zum Segen der musikalischen Volksbildung bewährt, war das Ergebnis meiner Verbesserungsbestrebungen. Das Tonwort hat nun die glückliche Eigenschaft, dass es als Ergänzung zu der kraftlosen Notenstenografie gebraucht werden kann und so gewissermassen sich als Mittel bewährt, den breiten Massen des Volkes das Notenverständnis zu erschliessen. Das ist ein hochanzuschlagender Glücksfall, denn die an sich kraftlose Notenstenografie ist nun einmal das allgemeingültige internationale musikalische Verkehrsmittel geworden. Diese Tatsache lässt sich durchaus nicht so im Handumdrehen aus der Entwicklung der musikalischen Geisteskultur ausschalten. Darum bin ich persönlich ein entschiedener Gegner aller auf eine grundstürzende Veränderung des Notensystems abzielenden Bestrebungen. Nur das sogenannte musikalische Abc (c, d, e, cis, dis, eis, ces, des, es) muss aus dem gesamten musikalischen Unterricht verschwinden. Ebenso wie seinerzeit die römischen Ziffern durch die arabischen Ziffern aus dem Rechenunterrichte verdrängt worden sind, muss das Abc durch das Tonwort aus dem Musikunterricht verdrängt werden.

Als ich 1863 konfirmiert und aus der Schule entlassen war, waren ich, meine Eltern, Verwandten und mein lieber Lehrer Feuerstake in der bittersten Verlegenheit, was mit mir werden sollte. Gern hätte ich ein Handwerk gelernt, vielleicht Schlosser, wegen der Maschinenbauerei. Aber das kostete damals Lehrgeld, das mein Vater nicht aufbringen konnte. Die Kinder armer Arbeiter konnten damals wegen des Lehrgeldes nicht Handwerker werden. Sie mussten wieder Arbeiter und Tagelöhner werden wie ihre Väter. Ich wurde Schreiber, gewann aber später das Vertrauen eines Kaufmanns, der mich als Kommis in seinem Weisswarengeschäft einstellte. Er legte sich dann Nähmaschinen zu und ich wurde, nachdem ich in seiner Nähstube drei Wochen das Maschinennähen geübt hatte, sein Nähmaschinenkommis. Die Damen, die Nähmaschinen kauften, hatte ich auch im Nähen zu unterrichten. Da führte mich sogar einmal 14 Tage auf das Land, wo eine adlige Frau Rittergutsbesitzer und ihre drei Töchter meine Schülerinnen im Maschinennähen wurden. In den Schreibstuben und im Kaufladen meldete sich meine Neigung zu wissenschaftlicher Betätigung immer stärker. So ging es nicht weiter. Als 1866 der Krieg mit Österreich ausbrach, trat eine allgemeine Geschäftsstockung ein. Ausserdem lag ich wieder einmal mit Gesichtsrose krank zu Haus. Da erhielt ich meine Kündigung, weil mein Chef zwei Neffen, die ihre Stellung verloren hatten, in sein Geschäft einstellen musste. — Ein mir wohlgesinnter Geistlicher in Halberstadt vermittelte meine Aufnahme in das Brüderhaus in Neinstedt bei Thale. Von dem Elementarunterricht, den die Brüder erhielten, wurde ich bald dispensiert und mir eine Lehrerstelle an der Blödenanstalt in Neinstedt übertragen. In den zwei Jahren meines dortigen Aufenthalts habe ich mich des Klavier- und Harmoniumspiels befleissigt und es so weit gebracht, dass ich einen vierstimmigen Choral leidlich vom Blatte spielen konnte—Auch mit der Harmonienlehre hatte ich mich einigermassen vertraut gemacht. Von dort aus übernahm ich eine Hauslehrerstelle bei dem blödsinnigen Knaben eines Magdeburger Fabrikbesitzers. Dort war ich ein Jahr. Während dieser Zeit habe ich die Bekanntschaft des Provinzialschulrates Dr. Trinkler gesucht, den ich um Rat anging, wie ich in den Schuldienst kommen könnte. Wegen der damaligen Lehrernot stellten die Regierungen Schulvikare an, die verpflichtet wurden, die Lehrerprüfung an irgend einem Lehrerseminar später nachzuholen. Dr. Trinkler schickte mich auf ein kleines Dorf, Dalldorf bei Gröningen (Kreis Oschersleben), zur vikarischen Verwaltung der dortigen Lehrer-, Küster- und Organistenstelle. Nach zwei Jahren übernahm ich in Wettin-Saale die vikarische Verwaltung einer Stelle an der dortigen Stadtschule, und Ostern 1872 bestand ich meine erste Lehrerprüfung am Seminar zu Eisleben. — Nach meiner Prüfung ging ich in die zweite Lehrerstelle in Schochwitz, Mansfelder See-Kreis. Am 15. Dezember 1872 habe ich mich mit der Tochter des Dorfschulzen Timme in Dalldorf bei Gröningen verheiratet. Mein Ortsschulinspektor in Schochwitz, Pastor Otto Flügel, war ein eifriger Anhänger und Verfechter der Herbartschen Philosophie. Seiner Anregung verdanke ich einige Vertrautheit mit den philosophischen Fächern und deren Terminologie, aber der Herbartschen Metaphysik bin ich nicht ins Netz gegangen. — Die zweite Lehrerprüfung habe ich Ostern 1875 ebenfalls in Eisleben bestanden. Der alte Herr Provinzialschulrat Konsistorialrat Wöpke klopfte mir vertraulich auf die Schultern und sagte: „Hoffentlich sehen wir uns in einigen Jahren in Magdeburg zur Mittelschullehrerprüfung wieder." „ Nein", sagte ich, „ ich habe für meine beiden Lehrerprüfungen Höllenqualen genug ausgestanden, ich mache keine weitere Prüfung durch." „ Ja, was wollen Sie denn aber tun?" „Schule halten und weiter die Wissenschaften in den Mussestunden zu meiner Ergötzung und Erholung pflegen." Da tippte sich der alte liebe Herr vor den Kopf und wendete sich ab. — Wahrhaftig, ich hatte viel erreicht! Als armes Arbeiterkind von der Dorfschule aus sich durch Selbstunterricht für zwei Lehrerprüfungen reif machen, das war viel. Darauf war und bin ich heute noch stolz. Irgend welches Strebertum war nicht meine Art. Diese Einstellung war von Segen. Wie viele legen sich auf das Erfinden, hungern und darben in der Hoffnung auf einen grossen Erfolg. Dieses Schicksal konnte nicht an mich herantreten, ich hatte mein Brot. Wenn unter den verehrten Lesern Stürmer und Dränger sind, so rufe ich ihnen im Verfolg dieser Gedankengänge zu: „Sorgt in erster Linie dafür, dass ihr einen Beruf habt, der für euch und eure Kinder Brot schafft. Wenn euch Liebhabereien und Bestrebungen anfechten, die euch Kopf und Herz warm machen, so pflegt sie in euren Mussestunden. Wenn etwas Vernünftiges dahinter steckt, springt unversehens ein Erfolg heraus." Zu den Prüfungskommissaren, bei meiner zweiten Lehrerprüfung gehörte der Oberlehrer des Seminars Dr. Jütting, der später Seminardirektor und Schulrat wurde. Er hat es als Autodidakt vom ostfriesischen Hütejungen bis zum Schulrat gebracht. Diesem Umstande ist vielleicht in der Hauptsache zuzuschreiben, dass er sich für mich interessierte. Kaum war ich von der zweiten Prüfung zu Hause angelangt, da schrieb er mir, ich hätte mich als Elementarlehrer zur Anstellung an der Realschule in Eisleben zu melden. Ausser den Elementarfächern in Sexta und Quinta hätte ich den gesamten Gesangsunterricht an der Realschule zu erteilen. Wie froh war ich, dass ich bei meiner unvollendeten musikalischen Bildung keinen Kirchendienst mehr hatte. Für die musikalische Aufgabe an der Realschule fühlte ich mich durchaus nicht hinreichend befähigt. Das schrieb ich an Dr. Jütting. Sofort erhielt ich wieder einen Brief, ich hätte mich durchaus zu melden, das würde sich schon alles machen lassen. Ich schrieb, dass ich gewissenshalber die Meldung unterlassen müsse. Bei einer gelegentlichen Anwesenheit in Eisleben suchte ich den lieben Gönner auf, um ihm nochmals zu danken für seine Teilnahme. Da bin ich aber schlecht gefahren, der gute Mann hat mich beinahe zur Tür hinausgeworfen. Alle meine Beteuerungen waren nicht im Stande, ihn zu beruhigen. Da habe ich mir vorgenommen, mich zu hüten, je für andere in der Jüttingschen Weise den lieben Gott spielen zu wollen. Später habe ich mich zur Anstellung an die Volksschule in Eisleben gemeldet und bin ohne Probelektion berufen worden, da der Rektor Sommer als Mitglied der Prüfungskommission mich schon von der zweiten Prüfung her bereits kannte. Ostern 1878 trat ich meine neue Stellung in Eisleben an.

Unter den Eisleber Kollegen waren einige tüchtige Naturwissenschafter, besonders der Botaniker Johannes Kunze, die mich anzogen. Das gab mir Anlass, mein Wissen etwas aufzubessern. Obwohl ich kein riesiger Botaniker bin, so übt diese schöne Wissenschaft immer wieder auf mich ihre Anziehungskraft aus. Allmählich fing doch der Kummer an, mich zu nagen, dass ich auf keinem Gebiete so recht heimisch war. Die dürftigen Gehaltsverhältnisse zwangen mich durch Erteilung von Mathematikstunden mein Einkommen zu verbessern. Familiensorgen kamen dazu, besonders das Dahinsterben geliebter Kinder. Schliesslich wandte ich mich der Chemie zu, da mir gestattet wurde, im chemischen Laboratorium der hiesigen Berggewerkschaft zu verkehren. Mein Wissen wurde dadurch in dankenswerter Weise bereichert. Als Mitglied des Gewerbevereins benutzte ich fleissig dessen Lesezirkel und blieb so auch auf verschiedenen technischen Gebieten auf dem Laufenden. Wie gesagt, ich habe mir Mühe gegeben, die Bildungsmöglichkeiten, die mir Eisleben bot, auszunutzen. Aber erst die schon in meiner Jugend rege gewordenen musikalischen Probleme waren es, die schliesslich meinen Bestrebungen die Richtung gaben, nach der ich mich sehnte. Mir blühte ein kleiner Erfolg. 1882 konstruierte ich ein Wellenmodell zur Veranschaulichung stehender und fortschreitender Longitudinal- und Transversalwellen, das Universitäten und höhere Schulen kauften. Das Trug etwas zur Verbesserung meiner materiellen Lebenslage bei und regte mich sehr zur Leistung zielbewusster Arbeit an. Die musikalische Akustik zog mich an, ich wollte, wie ich schon sagte, ermitteln, was eigentlich rein sachlich musikalisch gedacht werde. Das Ergebnis meiner Arbeit war die Konstruktion einer Klaviatur für ein Instrument in reiner Stimmung. Mittelst dieser Klaviatur konnte man 104 oder auch mehr Töne innerhalb einer Oktave meistern. Wer aber sollte das Instrument bauen und bezahlen? In unserem Reichstagsabgeordneten Dr. Arendt gewann ich einen lieben und tapferen Gönner, der beim preussischen Kultusminister Interesse für meine Erfindung rege machte. In Berlin musste ich meine Pläne dem berühmten Naturforscher Helmholtz vorlegen. Dieser bezeichnete meine Konstruktion als vernünftig und bestellte das grosse Instrument für die Universität Berlin unter dem Vorbehalt, dass ich den Bau selber leiten und überwachen sollte. Ich machte eine Fabrik (Schiedmayer, Pianofortefabrik, Stuttgart) ausfindig die das Instrument bauen konnte. Der Herr Kultusminister beurlaubte mich, bezahlte meinen Stellvertreter im Schulamt, gewährte mir Diäten für meinen Aufenthalt in Stuttgart und bezahlte schliesslich das kostspielige Instrument. Der Bau währte zwei Jahre. Das Instrument, ein Harmonium in natürlich reiner Stimmung, wurde 1892 fertig. Es steht in Berlin in Institut für Experimentalphysik am Reichstagsufer, gehört aber dem Institut für theoretische Physik dessen Direktor Geheimrat Prof. Dr. Max Planck ist. Dieser namhafte Gelehrte ist sehr musikalisch und führt zeitweise seine Hörer oder auch Gäste in das Verständnis der reinen Stimmung ein, wobei er das Instrument meisterhaft zu spielen versteht. Das Problem der reinen Stimmung und seine Lösung ist Jahrhunderte alt. Nur waren die Alten bei dem Mangel der technischen Mittel nicht in der Lage, das •Problem in der Vollkommenheit zu lösen, wie es das Berliner Instrument tut. Wirklich neu an dem Instrument ist nur seine umfangreiche und handliche Klaviatur. Durch diese Arbeit löste ich also die Frage: Was wird musikalisch gedacht? Nun galt es die Begriffsmittel zu prüfen, die das „Wie?" des musikalischen Denkens zu regeln haben. Da besteht nun eine ganz unbegreifliche Überschätzung des Notensystems bei den Musikern. Es ist wahr: Die Notierung ist in der Richtung des Rhythmischen Und Dynamischen der Musik in dem Masse vollkommen durchgebildet, dass sie dem Instrumentenspieler alles leistet, was er braucht. Aber in der Darstellung der Verhältnisse der Tonklänge ist sie sehr unvollkommen. Das stört den Instrumentenspieler wenig, denn sein Klavier bringt ja den Ton, wenn er die richtige Taste niederdrückt, oder seine Geige bringt ihm wenigstens annähernd den Ton, wenn er nach Anleitung der Violinenschule mit dem Finger richtig greift. Mangelt dem Tone noch die volle Reinheit der Intonation, so korrigiert er die Griffstelle auf Grund seines Tonalitäts- und Klangverwandtschaftsgefühls rein automatisch bei normaler Gehörsanlage mit hinreichender Sicherheit. Dem Sänger, der kein Instrument spielt, mangeln diese instrumentalen Krücken. Er kann den Ton nur frisch heraussingen, wenn sich beim Anblick der Note auch der ihr entsprechende Tonklang im Bewusstsein einstellt. Dafür leisten aber die Noten so viel wie gar nichts, und keine der im Schulgesangunterricht bisher angewendeten Notenlehrmethoden haben den heissersehnten Erfolg gebracht, den Gesangschüler das Notenverständnis in dem Masse zu erschliessen, dass sie geläufig vom Blatte zu singen vermöchten. Wenn man auch einige Ausnahmen zugeben kann, so besteht doch im Allgemeinen die Tatschache, dass die Massen des Volkes, die nicht Instrument spielen, bis in die sogenannt gebildeten Stände hinein die Unterschiede der Tonlage nicht begrifflich beherrschen. Das ist aber für das Verständnis der Notenschrift unerlässlich. Die Töne sind Vorstellungsobjekte. Alle Vorstellungsobjekte auf anderen Vorstellungsgebieten haben Namen. Zeigt man ein solches Objekt, so nennt es der normale Mensch bim Namen. Kennt man das Objekt, so erinnert sich der normale Mensch an das Objekt, das heisst dessen Vorstellung tritt in sein Bewusstsein. Im Schulgesangunterricht hat man das Verfahren zu sehr dem Instrumentalunterricht angeglichen. Wenn man hier auf die Erinnerung des Namens verzichten konnte und es nur darauf ankam, nach Anweisung der Note die richtige Griffstellung am Instrument zu finden, deren Anspielung dann den Ton im Objekt Lieferte, so durfte man doch im Gesangunterricht die Erinnerung an den Namen nicht ausschalten, sondern musste Mittel und Wege finden, den Namen zwischen dem Anblicke der Note und dem Ansingen des Tones als zuverlässiges Erinnerungsmittel einzuschalten. Das ist erreichbar, wenn fleissig nach Noten auf Tonnamen gesungen wird. Dazu waren aber unsere gebräuchlichen Notennamen wegen ihrer logischen Wertlosigkeit und ihrer Unsangbarkeit nicht tauglich. Ganz allein dieser Mangel hat einen vernünftigen Schulgesangunterricht, der im Notenverständnis gipfelte, vereitelt. Dem übelstand-ist gegenwärtig aber abgeholfen durch die weit und breit schon bekannten Tonworte, die ich für diesen Zweck geformt habe. Die Gesanglehrer brauchen nur zuzugreifen und sich im Unterricht dieser Namen zu bedienen, um ihren Gesangunterricht mit dem Erfolg zu krönen, dass ihre Schüler vom Blatt singen lernen. Aber nur gar zu langsam wagen sie sich an die Sache heran, die doch eigentlich nicht länger aufgeschoben werden dürfte. Ohne viel Aufhebens und Urschweife seien die Tonworte hier mitgeteilt. In jeder Oktave sind sieben Notenplätze. Sie heissen:

 

 

im Abc

im Tonwort

 

ces c cis

ne bi ro

 

des d dis

ri to mu

 

es e eis

mo gu sa

 

fes f fis

go su pa

 

ges g gis

pu la de

 

as a ais

da fe ki

 

be h his

ke ni bo



Der Leser wird gebeten, sich etwas mit diesem neuen musikalischen Denkmittel zu befassen, Tonleitern und Dreiklänge daraus zu bilden; dann wird er bemerken, dass die Konsonanten der Tonworte die Halbtonstufen auf dem Klavier oder einem andern Greifinstrument bezeichnen und dass Tonleitern und Dreiklänge bei Verwendung dieser Namen gewissermassen den Parallelismus gleichartiger Gebilde erkennen lassen. Fragen wir nun am Schluss: „Wie erzieht man durch den Schulgesangunterricht die Massen zu einer vernünftigen musikalischen Bildung, die das Notenverständnis erschliesst?" So ist die Antwort sehr einfach:

  1. Lehrt das Notenlesen! Es schliesst zwar zunächst kein Notenverständnis ein, aber es will nicht nur , sondern muss — soll der Erfolg nicht ausbleiben — bis zur Vollkommenheit Geläufigkeit geübt werden.

  2. Braucht nur als Notennamen die Tonworte!

  3. Übt alles im Gesangunterricht, Melodien und Stimmen, zunächst auf Tonworte singend und singt erst auf Text, wenn die musikalischen Zusammenhänge tonwörtlich erst einigermassen begriffen sind und in der Erinnerung soweit festsitzen, dass man die Wiedergabe auf den Text wagen darf.

  4. Quält die Schüler nicht mit Treffübungen. Die musikalische Vernunft steckt vorwiegend im Liederstoff. In dem Masse, wie sie allmählich rein automatisch auf den Schüler wirkt, stellt sich nach dem Masse der musikalischen Veranlagung die Treffkunst und damit die Fähigkeit des Vom-Blatt-Singens von selbst ein. Alle Tonleiter- und sonstigen Übungen haben daneben nur einen zweifelhaften Wert, wie die Geschichte des Schulgesangunterrichtes lehrt, nach der sich die Gesanglehrer in den auf das Allerfeinste ertüftelten Trefflehrübungen mit stetem Misserfolg erschöpft haben. Der Liederstoff soll der Nährstoff sein.

  5. Beginnt möglichst schon im dritten Schuljahr mit dem zweistimmigen und im fünften Schuljahre mit dem dreistimmigen Liedgesang.

 

 

Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, so zieht sich wie ein roter Faden durch die Reihe der Wechselfälle die Tatsache, dass ich , ohne es eigentlich zu wollen, geleitet wurde, eine bestimmte Aufgabe, die auf die Hebung der musikalischen Bildung, auf die Reform des Schulgesangunterrichts hinauslief, lösen musste. Die Überschrift meiner Lebenserinnerungen darf deshalb nicht als Anmassung gedeutet werden. Sie darf es umso weniger, da ich die Überzeugung habe, dass jedem Menschen vorbestimmt ist, was er zu leisten hat. — Nun gibt es einen Umstand, der zu leicht bewirkt, dass viele Menschen ihren Lebenszweck verfehlen, indem sie -sich eigenwillig den in ihnen wirkenden Auftrieben entziehen. An Versuchungen zu diesem unseligen Unterfangen hat es mir auch nicht gefehlt, und es ist durchaus nicht mein Verdienst, dass ich diesen Versuchungen nicht erlegen bin. Die gütige Hand der Vorsehung hat eben zwangsläufig meine Geschicke gelenkt.