Jürg Kerle 2017
Tonnamen-Geschichte
Grundsätzliches
Mit der Tonnamen-Geschichte werden die Kinder ab der 2.Klasse behutsam in den Tonraum der Pentatonik oder Fünftonmusik eingeführt, die im Laufe des Schuljahres zu der 7-stufigen Durtonleiter erweitert wird.
Die Pentatonik ist das älteste Tonsystem der Welt, das sich bis ins 3.Jahrtausend vor Chr. nachweisen lässt. Es empfiehlt sich für Kinder, aus entwicklungspsychologischen Gründen, bei der Erarbeitung der Ton-und Tonbeziehungsvorstellung mit der Fünftonmusik zu beginnen.
Viele Kinderlieder basieren auf der Pentatonik. Die einfachsten bestehen aus einer Zweitonformel, der sogenannten Kuckucks-oder Rufterz. Dreiton-Formeln enthalten zusätzlich eine Sekunde über der Ruf-Terz (Leiermotiv). Oft gesellt sich zu dem Leiermotiv zum Beispiel e‘‘, d', h' noch der Grundton der Durpentatonik hinzu. (g‘)
Unsere Lehrgänge sind nach diesem Prinzip aufgebaut, im Lehrmittel RIPIRI Tonkreise genannt,
erst Zwei-und Drei-Tonlieder, dann Vier-und Fünftonlieder, Dur-und Mollpentatonik, dann die Erweiterung zur ersten Durtonleiter.
Die Tonnamen-Geschichte erstreckt sich über mehrere Monate und prägt den Unterricht, indem, gleich einem Roman, man sich auf die Fortsetzung freuen kann.
Die Geschichte soll wie ein Märchen erzählt werden. Dabei sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Zu beachten wäre, dass die verwendete Bildsprache die musikalischen Tatsachen widerspiegeln. Der Wald symbolisiert die noch unbekannte Welt, die Klänge des Glockenturms, die geheimnisvolle Welt der Musik und das Zwerglein wäre sozusagen der Türhüter ins Reich der Musik. Die „Architektur“ des Glockenturmes soll dem Aufbau der Tonleiter entsprechen.
Inhalt
Toni Derungs und Nina Hartmann verabreden sich miteinander am Waldrand. Sie lauschen einem Kuckuck und folgen seinem Ruf und kommen so immer tiefer in den Wald hinein.
Von Ferne hören sie schöne Glockentöne, fasziniert eilen sie dem Klang entgegen und stehen plötzlich auf einer Waldwiese vor einem hohen Glockenturm.
Ein Zwerglein begrüsst sie freundlich. Sie fragen, ob sie den Glockenturm besichtigen dürfen.
Wohlwollend führt sie das Männlein in den Turm hinauf und Toni und Nina dürfen die im 3. und 4. Stock hängenden Glocken läuten. Sie bemerken, dass man mit diesen zwei Glockentönen das Lied "Kuckuck, säg mier doch" spielen kann.
Ehe sie heimkehren, dürfen sie mit goldener Farbe die Glocken anschreiben, Toni die obere, kleinere und Nina die grössere, untere. Von aussen sieht man die Glocken durch die beiden offenen Fenster leuchten. Die zwei ersten Buchstaben ihrer Vornamen (To und Ni) kann man deutlich erkennen.
Anderntags wollen sie das Erlebte als Geheimnis bewahren. Sie müssen aber immer wieder an den Turm, das Zwergli und die Glocken denken, vor allem auch an das Kuckuckslied, das sie mit den Glocken spielen durften.
Da sie nun keine Glocken mehr hatten, haben sie ein "Geheimzeichen" erfunden, mit dem sie sich an die Glockentöne erinnern konnten. (Handzeichen, siehe Beiblatt) Somit können erste Schritte bei der Entwicklung der inneren Tonvorstellung gemacht werden.
Die mit Buchstaben aufgeschriebenen Tonnamen werden nun in Verbindung mit den Handzeichen geübt. Bald entwickelt sich dabei eine gewisse Fertigkeit im "Singen nach Handzeichen" als Vorbereitung für das "Singen vom Blatt".
Das Geheimnis liess sich nicht lange halten. Gusti Engi witterte etwas und schlich sich, beim nächsten Besuch von Toni und Nina im Wald, hinten her.
Gusti durfte sich auch eine Glocke, die kleinere oberhalb jener vom Toni auswählen.
Die Enttäuschung , dass jemand ihr Geheimnis gelüftet hatte, verflog bald, als sie bemerkten, dass man mit drei Glocken ein umfangreicheres Lied spielen konnte (Storch, Steiner).
Die Geschichte nimmt ihren Lauf; immer mehr Kinder kommen hinzu, jedes erhält eine Glocke, darf sie anschreiben, jedes neue Kind erfindet für seinen Ton ein Handzeichen, mit dem dann die entsprechenden Lieder gesungen und innerlich vorgestellt werden können.
Ladina Gehrig, damit sie die bisher grösste Glocke erhalten durfte, musste sich diese verdienen, in dem sie vor das Rätsel gestellt wurde, eine Glocke zu finden, die besonders gut zu jener von Toni und Nina passt. ( Ergänzender Dreiklangs-Ton la/g zu to/d und ni/h). Ich spiele erst möglichst dissonante Töne hinzu. Interessant, dass manche Kinder der Meinung sind, dass das fe/a (Glocke von Felix Alig) besser zu den ersten beiden passen würde.
Die Einführung des fe/a verband ich mit dem „Zaubertrick“, dass ich behauptete, dass ich ihnen bei geschlossenen Augen einen Ton in den Kopf zaubern könne, obwohl sie mit beiden Händen die Ohren zuhalten würden und der Nachbar auch nichts bemerken würde. (Angeschlagene Stimmgabel dem Kind auf den Kopf halten)
Besonderheiten
Nachdem die ersten 5 Glocken vergeben sind, kommen das gu‘/e, das to‘/d und das hohe la‘‘/g dazu.
In der Geschichte kann erzählt werden: Eines Tages reklamierte Gusti, dass er zwar Freude an seiner Glocke hätte, aber sie wäre doch die kleinste, er hätte doch lieber auch eine grössere.
Mit der Einführung des gu‘/e erhält der Tonraum eine zusätzliche Dimension, in dem sich die Dur-Pentatonik (g,a,h,d,e) zur Mollpentatonik e,g,a,h,d weitet und sich eine völlig neue Welt eröffnet. (Lied: Nebel, Nebel weisser Hauch).
Das Zwergli löste das Problem, indem es sagte: Wenn du eine Glocke in diesem Turm findest, dessen Klang besonders gut mit deinem verschmilzt, kannst du sie haben. (Oktave, Schwingungsverhältnis 1:2)
Ähnlich kann man bei den weiteren Verdoppelungen vorgehen. (d‘ und g‘‘)
Eine besondere Beachtung schenkte ich der Einführung des bi‘‘/c. Dieser Ton ist im Zusammenhang mit der halbtonlosen Dur/Moll-Pentatonik, die einen schwebend-statischen, kosmischen, nicht irdisch zielgerichteten Charakter hat, der entscheidende Ton, dass sich der bisher erlebte Tonraum in die Dur-Tonalität weitet und man sozusagen den Weg vom Kosmos auf die Erde vollzogen hat. (Lied: Auf der Erde steh ich gern) Zur halbtonlosen Pentatonik gesellt sich nun der erste Halbtonschritt dazu. (h,c)
Bei der Beschreibung des Glockenturms habe ich immer darauf geachtet, dass im „Zwischenstock“ zwischen h und d sich eine verschlossen Tür zu einer besonderen Glocke befindet, die erst geöffnet werden kann, wenn die Zeit reif ist. Ich erzählte jeweils, dass bei uns zuhause die Weihnachts-Päckli auf dem Schrank im Schlafzimmer der Eltern lagerten, bis eben am Heilig Abend die Zeit reif war, diese zu öffnen. Mit der Einführung des bi‘ lassen sich nun die zahlreichen Lieder im Fünftonraum einführen. (g,a,h,c,d) und die vielen, die sich im Hexachord (g,a,h,c,d,e) bewegen.
Mit der Einführung des das hohen und tiefen pa/fis ist die Durtonleiter incl. dessen unterem Tetrachord (d,e,fis, g) vollzogen und somit der zweite Halbtonschritt eingeführt.
Wenn nun alle Glockenfester offen sind, eine völlige Klarheit über den „Bauplan“ des Glockenturms besteht, alle Kinder die einsprechenden Handzeichen kennen, mit den Handzeichen die Töne geübt sind, die Verbindung Glocke- Klangstab gemacht wurde, ist es ein Leichtes, die Notenschrift einzuführen.
Ich liess jeweils die Kinder die Schallwellen erleben, (Vibration Klavier etc.) dann zeichneten wir die „Schallwellen“ am Glockenturm ein und entwickelten dabei die fünf Notenlinien, die dann später auch mit grossen Bändern im Raum ausgelegt wurden. Man konnte also sich ins Notensystem stellen und sich darin bewegen, die einsprechenden Klangstäbe hineinlegen und die ersten Versuche im Singen nach Noten beginnen.
Somit sind der ersten Schritte zu einer bewussten Ton-und Tonbeziehungsvorstellung vollzogen.
Nachtrag
Alle Kinder haben einen Vornamen und einen Familiennamen. Die ersten beiden Buchstaben des Vornamens bilden die Ton-Silbe, der Anfang des Familiennamens die entsprechende Bezeichnung des musikalischen Alphabets.
Bino Cella, Toni Derungs, Gusti Engi, Susanne Frei, Ladina Gehrig, Felix Alig, Nina Hartmann, Palma Fiscalini.
Stimmbildnerischer Hinweis
Für manche Kinder ist die La-Pentatonik anfänglich noch zu hoch. Deshalb sollten, bevor man mit der methodischen Arbeit beginnt, die Stimmen gut aufgewärmt sein und mit Übungen (Z.B. Kuckucksrufe, Nachahmung des Windes oder Glockenbewegungen mit den Armen etc. die Höhe erarbeitet worden sein, am besten in jeder Lektion.